10.12.14 || KÖLN (10. Dezember 2014) - Er kann nicht mehr schreiben und seine Stimme erheben, da er jetzt von uns, als einer der großen Schriftsteller und Publizisten, gegangen ist. Ralph Giordano starb
im Alter von 91 Jahren in der Nacht zum Mittwoch, 10. Dezember, in einem Kölner Krankenhaus. In seinem letzten Werk „Mein Leben ist so sündhaft lang" vertraute er seinem Tagebuch an: „Ich kann nicht
leben, ohne zu schreiben«, aber er konnte auch nicht leben, ohne die Stimme zu erheben, wenn Unrecht geschieht. Die Stimme ist nun verstummt. Ein Jahr lang protokolliert Giordano, was ihn
beschäftigt, aufregt und bewegt - es war vielleicht sein persönlichstes Buch und eines seiner Letzten.
Ein Jahr lang, vom Geburtstag 2009 bis zum Geburtstag 2010, hat der große deutsche Publizist und Schriftsteller sich und seine Zeit kritisch und selbstkritisch unter die Lupe genommen. Dabei hat er ganz genau hingeschaut. Ob es um Bundeswehreinsätze in Afghanistan, Aufstände in Teheran, den Einsturz des Kölner Stadtarchivs, eine Huldigung an Herta Müller oder Einblicke in seine persönliche Arbeitsweise geht - es sind Aufzeichnungen, die zeigen, wie eng verbunden dieses Leben mit den großen Strömungen und Bewegungen unserer Zeit ist. Gleichzeitig aber gestatten sie einen tiefen Einblick ins Private, ohne Voyeure zu bedienen oder den Mutterwitz des Autors zu verbergen. Was nach dem einen Jahr herauskam war „Mein Leben ist so sündhaft lang" - Ein Tagebuch.
Was den rastlosen 91-Jährigen jung hielt, ist die Verteidigung jener Staats- und Gesellschaftsordnung, in der er sich nach den bitteren Erfahrungen seiner Jugend in Hitler-Deutschland einzig
sicher fühlt: der demokratischen Republik, dem demokratischen Verfassungsstaat. Wann immer er sie bedroht wähnt, ob von rechts, von links oder von radikalen Muslimen, ist der scharfsichtige und
unbestechliche Zeitzeuge zur Stelle.
Seine offene Kritik an anti-emanzipatorischen und menschenrechtsfeindlichen Erscheinungen innerhalb der türkisch-muslimischen Parallelgesellschaften hat den versandeten Diskurs über das Integrations-
und Migrationsproblem in Deutschland auf eine neue öffentliche Ebene gehoben. Diese Auseinandersetzung mit deutschen Multikulti-Illusionisten und integrationsabstinenten Muslimen führt Giordano an
der Seite kritischer Muslime. Dass sich damit der Gefahrenpegel für ihn erhöht hat, nimmt er hin.
Ralph Giordano war aufgrund seiner jüdischen Herkunft mit seiner Familie Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungen, die er in einem Kellerversteck in Hamburg-Alsterdorf auf dramatische Weise
überlebte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er Journalist und arbeitete als Redakteur bei der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung. Von 1946 bis 1957 war er Mitglied der (seit 1956 illegalen) KPD. Nach seinem
Bruch mit dem Stalinismus veröffentlichte er 1961 bei Kiepenheuer & Witsch das Buch »Die Partei hat immer recht«.
Von 1961 bis 1988 arbeitete er als Fernsehjournalist für den NDR und WDR.
Als Buchautor wurde er 1982 berühmt mit seinem autobiografischen Roman Die Bertinis, in dem er die Geschichte einer jüdischen Familie in der NS-Zeit erzählte. Als Buchautor setzte er sich in vielen Veröffentlichungen vehement mit der mangelnden Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen in der Bundesrepublik auseinander (Die zweite Schuld) und beklagte immer wieder die verborgene Kontinuität nationalsozialistischer Amtsträger in der Bundeswehr (Die Traditionslüge) in der Politik, in der Wirtschaft und Justiz.
Ralph Giordano war seit über 20 Jahren Autor des Verlags Kiepenheuer & Witsch, wo er neben Büchern über sein Lebensthema, der Bekämpfung des Totalitarismus, alter und neuer Formen von Rassismus und Islamismus zahlreiche Länderreportagen veröffentlichte (von Israel, um Himmels willen Israel , 1991, bis Sizilien, Sizilien! Eine Heimkehr , 2002).
Seine letzte Veröffentlichung "Von der Leistung, kein Zyniker geworden zu sein" fiel in das Jahr 2011.
Ralph Giordano wurde für sein publizistisches Werk vielfach geehrt, u.a. mit dem Leo-Baeck-Preis 2003. Die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) verleiht ihm in diesem Jahr den
Arthur-Koestler-Preis 2014. Mit dem DGHS-Medienpreis wurde sein Lebenswerk und die Einstellung zum Thema Selbstbestimmung geehrt.
Ralph Giordano wird uns fehlen. Er war eine unverzichtbare Stimme der demokratischen, politischen Kultur unseres Landes. Er war ein Rückgrat der Verlagsprogramme von Kiepenheuer & Witsch. In den letzten Jahrzehnten hat der Hamburger in Köln eine zweite Heimat gefunden. Er war uns allen, den Mitarbeitern des Verlags und vielen Autoren ein Freund, den wir nie vergessen werden.
Die Nachricht vom Tod des Schriftstellers und Journalisten Ralph Giordano ist im NDR mit großer Trauer aufgenommen worden. Lutz Marmor, NDR Intendant und ARD-Vorsitzender: "Ralph Giordano war ein
engagierter Streiter für Freiheit und Menschlichkeit. Was neben seinem literarischen und journalistischen Werk bleibt, ist der Bertini-Preis. Er würdigt junge Menschen, die couragiert gegen Unrecht,
Ausgrenzung und Gewalt eingetreten sind, so wie es Ralph Giordano Zeit seines Lebens getan hat."
Die autobiografische Familien-Saga "Die Bertinis" von 1982 ist Giordanos berühmtestes literarisches Werk, das in seiner Geburtsstadt spielt. Der Roman war der Namensgeber für den "Bertini-Preis", der seit 1998 alljährlich an junge Menschen verliehen wird, die sich für ein solidarisches Zusammenleben in Hamburg engagieren. Der Norddeutsche Rundfunk zählt zu den Förderern des Preises.
Ralph Giordano wurde als Sohn eines Pianisten und einer Klavierlehrerin jüdischen Glaubens im Hamburger Stadtteil Barmbek 1923 geboren. Bis zur Befreiung am 4. Mai 1945 durch die Briten überlebte er
die letzten Monate der NS-Zeit in einem Keller in Hamburg-Alsterdorf, wo er sich gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Brüdern vor der Gestapo versteckt hielt.
Als Journalist und Publizist arbeitete er fortan. 1961 bis 1964 war Giordano Fernsehredakteur in der damaligen Ost-West-Redaktion des NDR. 1964 wechselte er zum WDR, wo er bis zu seiner Pensionierung 1988 zahlreiche Dokumentarfilme realisierte. Viele von ihnen wurden mit Preisen ausgezeichnet, darunter zwei Grimme-Preise.
Er ist Autor zahlreicher Bestseller, darunter »Die Bertinis« (1982), »Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein« (1987), »Ostpreußen ade« (1994), »Deutschlandreise« (1998), »Sizilien, Sizilien! Eine Heimkehr« (2002) und »Erinnerungen eines Davon - gekommenen« (2007). Zuletzt erschien sein Buch »Mein Leben ist so sündhaft lang: Ein Tagebuch« (2010).
Von der Leistung kein Zyniker geworden zu sein - Reden und Schriften über Deutschland 1999 bis 2011; ISBN: 978-3-462-04404-1; eBook; Erschienen am: 12.03.2012; 400 Seiten, gebunden; € 22,99
Mein Leben ist so sündhaft lang - Ein Tagebuch; Brillant geschrieben und von bestechender; Eindeutigkeit; ISBN: 978-3-462-04240-5; Erschienen 23.09.2010; 304 Seiten, gebunden; € 19,95
Erinnerungen eines Davongekommenen - Die Erinnerungen eines großen Humanisten Spiegel-Bestseller; Taschenbuch; ISBN: 978-3-462-04003; Erschienen am: 06.03.2008; 576 Seiten, Kiwi 1047; € 9,95 € - Ersterscheinung am: 14.03.2007; 568 Seiten, gebunden; ISBN: 978-3-462-03772-2; € 22,90
Mein irisches Tagebuch - Eine poetische Hymne auf eine schöne und gewalttätige, idyllische und zerrissene Insel in Europa; Taschenbuch; ISBN: 978-3-462-03957-3; Erschienen am: 22.08.2007; 496 Seiten, Taschenbuch; Kiwi 1022; € 9,95
Ostpreussen Ade - Reise durch ein melancholisches Land; Taschenbuch ISBN: 978-3-462-03437-0; Erschienen am: 22.09.2004; 368 Seiten, Taschenbuch; Kiwi 854; € 9,95
*) für den Verlag Kiepenheuer & Witsch
Foto: Verlag Kieenheuer & Witsch